Abschied von Anna: Der Tod unserer Tochter und der Umgang mit Leid

Vor 20 Jahren wurde unser Kind tot geboren. Ein Text über Schmerz, Trost und ein mysteriöses Zeichen



Nachdem unsere Tochter tot zur Welt gekommen ist, fahren wir zu McDonald’s. Wir haben sie gewaschen und angezogen, in ein Bastkörbchen gelegt und sie zugedeckt, als könnte sie noch frieren. Wir haben uns in der Klinikkapelle von ihr verabschiedet und dann hat der Bestatter sie geholt.

Und jetzt stehen wir ganz allein in der leeren Kapelle, meine Frau und ich. Es ist schon weit nach Mitternacht, und es gibt nichts mehr zu tun und nichts mehr zu sagen. Also nehmen wir uns an den Händen und gehen zum Parkplatz, steigen in unseren Wagen, schnallen uns an und fahren durch die Dunkelheit.

Es ist nicht vorgesehen, dass man aus einer Geburtsklinik ohne ein Kind nach Hause fährt, denke ich. Ich sehe, wie finster und leer die Straßen der Stadt sind, und ich fühle, wie leer auch wir sind. Vielleicht holen wir deswegen so spät in der Nacht noch so viele Cheeseburger und große Portionen Pommes und Chicken McNuggets aus dem Drive-in und essen sie in unserem Wohnzimmer ohne ein Wort und ohne jeden Skrupel und trinken dazu Bier: um diese Leere zu füllen.

Aber vermutlich haben wir einfach nur Hunger, vor allem meine Frau, denn auch ein totes Kind zu gebären, kostet Kraft. Ein totes Kind hilft nicht mit, es muss von der Mutter ganz allein hinausbefördert werden in eine Welt, die es gar nichts mehr angeht.

All das ist jetzt 20 Jahre her und während ich es aufschreibe, kommt es mir vor wie gestern. Aber je länger ich darüber nachdenke, umso klarer wird mir, dass es doch wirklich sehr weit zurückliegt. Denn es ist so viel geschehen seither mit uns, und so vieles davon hängt mit diesem Abend im Herbst 2003 zusammen.

Die bekannteste Buddha-Legende erzählt vom Verlust eines Kindes

Eine der bekanntesten Legenden des Buddhismus erzählt vom Verlust eines Kindes. Eine junge Frau namens Kisa Gotami hat ihren Sohn verloren und bittet den Buddha, ihn wieder zum Leben zu erwecken. Das werde er tun, verspricht der Erleuchtete, sie müsse ihm dafür nur ein Senfkorn bringen. Und dieses Senfkorn müsse aus einem Haus einer Familie stammen, in dem noch niemand gestorben sei. Kisa Gotami hat kein solches Haus gefunden, und ihr einziges Kind blieb tot. Aber sie verstand den Lauf der Welt und erkannte, dass das Leid in ihr allgegenwärtig und unvermeidbar ist. Niemand wird verschont.

Wir hatten erst im siebten Monat der Schwangerschaft von der schweren Erkrankung unserer Tochter erfahren. Danach setzten wir uns auf unsere kleine Terrasse, wir schwiegen und ich rauchte eine Zigarette, obwohl ich mir das Rauchen längst abgewöhnt hatte.

Der Wind strich sanft durch die beiden Birken vor dem Haus und ich erinnerte mich an das, was ein befreundeter Pastor einmal zu mir gesagt hatte: Gott ist nicht Blitz und Donner. Gott ist das Säuseln zwischen den Blättern.

→ weiterlesen

Sex, Koks, Politik: Historischer Eklat erschütterte Hamburg

2001 ging die Hamburger CDU ein Bündnis mit dem Rechtspopulisten Schill ein. Es endete im Desaster – wozu auch das „Hamburger Abendblatt“ beitrug. Ein Rückblick zum 75. Jubiläum der Zeitung, für die ich schon in den wilden Schill-Jahren aus dem Rathaus berichtete.

Es sah an jenem denkwürdigen Vormittag fast so aus, als hätte sich Ronald Schill ein Hitlerbärtchen stehen lassen. Aber in Wahrheit trug der frisch gefeuerte Hamburger Innensenator nur einen wuchernden Herpes über der Oberlippe, als er am 19. August 2003 gegen 11 Uhr den Raum 151 des Hamburger Rathauses betrat – womöglich verstärkt durch Stress und Aufregung. Grund zur Aufregung gab es in jenen Tagen jedenfalls mehr als genug in der Hamburger Politik.

Ihren Höhepunkt hatte die mit dem Rechtspopulisten Schill im Herbst 2001 ins Rathaus eingezogene Dauererregung eine gute Stunde vor der eilig einberufenen Pressekonferenz erreicht: CDU-Bürgermeister Ole von Beust hatte Schill, der als Zweiter Bürgermeister auch sein Stellvertreter war, völlig überraschend aus dem Senat entlassen. Beusts Begründung: Der frühere Amtsrichter habe ihn bei einem Vier-Augen-Gespräch im Bürgermeisterbüro kurz zuvor erpressen wollen.

Eklat im Rathaus: Beust feuert Schill wegen eines angeblichen Erpressungsversuchs

Hintergrund: Beust wollte Schills wegen ungenehmigter Nebentätigkeiten in die Kritik geratenen Innenstaatsrat Walter Wellinghausen in den einstweiligen Ruhestand versetzen. Um das zu verhindern, habe ihm Schill gedroht, „öffentlich publik zu machen, dass ich meinen angeblichen Lebenspartner, Justizsenator Dr. Kusch, zum Senator gemacht und damit Privates und Politisches verquickt habe“, so von Beusts Schilderung des Vorgangs. Der Innensenator habe gedroht, seine Behauptungen in der Hauptnachrichtenzeit öffentlich zu machen. Er habe Schill daraufhin seines Büros verwiesen und die Entlassungsurkunden für Schill und Wellinghausen ausfertigen lassen, so der Bürgermeister. Schills Behauptung sei falsch, die Drohung „ungeheuerlich“. 

→ weiterlesen

10 Jahre Netzrückkauf: Wie ein Volksentscheid Hamburg radikal veränderte

2013 stimmte eine Mehrheit für Rückkauf der Energienetze. Das hat bis heute massive Folgen – nicht nur im Energiesektor. Eine Bilanz.

Einer der größten Verlierer der ganzen Sache sollte am Ende ein kämpferischer Professor mit sehr gutem Gehalt werden, der auf der Rückseite des Rathauses residierte. Aber das wurde erst viel später klar.

Als am späten Abend des 22. September 2013 das Ergebnis des Volksentscheids über den Rückkauf der Hamburger Energienetze endlich feststand, ahnte Handelskammer-Hauptgeschäftsführer Prof. Hans-Jörg Schmidt-Trenz wohl noch nicht, dass ihn sein Engagement in der öffentlichen Debatte und der hauchdünne Sieg der Volksinitiative „Unser Hamburg – unser Netz“ ein paar Jahre später zumindest mittelbar den bestens dotierten Job kosten sollte.

Klar war an diesem Abend nur das Ergebnis, das parallel zu dem der Bundestagswahl veröffentlicht wurde: Die kleine Initiative hatte sich mit 50,9 Prozent Zustimmung hauchdünn gegen die mächtigsten Akteure der Stadt durchgesetzt. Hamburg würde das mehr als 35.000 Kilometer lange Leitungsnetz für Strom, Gas und Fernwärme von Vattenfall und Eon zurückkaufen.

Energie Hamburg: War der Rückkauf der Netze wirklich ein Erfolg?

Heute, zehn Jahre später, legen sich viele Akteure von damals im und um das Rathaus noch einmal die Karten. Dabei steht eine zentrale Frage im Mittelpunkt: War der vom Volk bestimmte Rückkauf der Energienetze richtig?

Haben sich die Hoffnungen der Befürworter auf eine „sozial gerechte, klimaverträgliche und demokratisch kontrollierte Energieversorgung aus erneuerbaren Energien“ erfüllt, wie es der Abstimmungstext des Volksentscheids versprach? Oder haben die Kritiker mit ihren Warnungen vor extremen finanziellen und rechtlichen Risiken recht behalten? Dabei gehen die Einschätzungen bis heute auseinander.

→ weiterlesen

Sepsis: Warum der zwölfjährige Rory an einem kleinen Kratzer sterben musste

Die tückische Blutvergiftung, die ihn tötete, bringt Millionen Menschen um. Weil Ärzte sie oft spät erkennen. Das sind die Warnzeichen.

Es ist ein schöner New Yorker Frühlingsmittwoch im März, als der zwölf Jahre alte Rory Staunton sich im Sportunterricht nach einem Basketball streckt, dabei stürzt und sich einen Kratzer am Arm zuzieht. Nicht der Rede wert, denkt sein Lehrer und versorgt den Jungen mit Pflaster, die Wunde wird nicht desinfiziert. Vier Tage später ist Rory tot. 

Gestorben an einer Sepsis, einer Blutvergiftung, bei der das Immunsystem nach einer Infektion so stark überreagiert, dass es im schlimmsten Fall den Menschen tötet, den es eigentlich schützen soll. Nur eines kann helfen: die schnelle Gabe von Antibiotika. 

Sepsis: Warum Rory (12) an einem kleinen Kratzer sterben musste

Die Ärzte aber, die Rorys Eltern mit ihrem Sohn nach den ersten schweren Symptomen aufsuchen, erkennen die Killerkrankheit nicht rechtzeitig – bis es für den Jungen zu spät ist. Der Tod von Rory Staunton im Jahr 2012 und ein großer Bericht in der „New York Times“ lösten nicht nur eine landesweite Anteilnahme aus – sie veränderten auch die Arbeit von Kliniken in den USA

2013 führte der Staat New York die nach dem toten Jungen benannten „Rory’s Regulations“ ein, seither gibt es dort präzise Regularien zur Erkennung und Behandlung von Sepsis. Und Rorys Eltern gründeten eine Stiftung zur Bekämpfung der Sepsis

Gesundheit: In Deutschland sterben jährlich bis zu 100.000 Menschen an Sepsis

In Deutschland sterben laut Sepsis-Stiftung mittlerweile mehr Menschen an einer Sepsis als an Herzinfarkten oder Schlaganfällen. Laut Bundesgesundheitsministerium erkranken „mindestens“ 230.000 Menschen jährlich an Sepsis, 85.000 davon sterben. Viele davon könnten gerettet werden, wenn die Krankheit rechtzeitig erkannt würde. 

Die Dunkelziffer ist hoch, weil nicht bei allen Verstorbenen die Sepsis als Ursache erkannt wird. Die Sepsis-Stiftung geht sogar davon aus, dass es jährlich 100.000 Sepsistote in deutschen Kliniken gibt, von denen rund 50.000 überleben könnten, wenn die Sepsis früh genug erkannt und mit Antibiotika behandelt würde. 

→ weiterlesen

Frau und Sohn tot: Wie ein Vater gegen eine der renommiertesten Kliniken kämpft

Ärzte des UKE erkennen den Zustand der Frau erst spät, sie und ihr Kind sterben. Ihre Akte dokumentiert die Tragödie. Nun wird gegen vier Mediziner ermittelt.

Der 23. Mai 2019 hätte ein guter Tag werden können. Für Hamburgsind 20 Grad und zwölf Sonnenstunden angesagt. Deutschland debattiert engagiert über ein CDU-Video des YouTubers Rezo. Und das Abendblatt titelt zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Heute ist ein Tag, dankbar zu sein.“ 

Für Joachim Greuner aber wird der 23. Mai 2019 kein guter Tag, kein normaler Tag und kein Tag, dankbar zu sein. Für den Steuerjuristen aus Ellerbek wird der 23. Mai 2019 zum furchtbarsten Tag seines Lebens. Am frühen Morgen legen ihm Ärzte und Hebammen im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) seinen toten Sohn in die Arme. Und am Nachmittag steht der Chef der Geburtsklinik mit zwei Kollegen vor ihm. Die Ärzte teilen ihm mit, dass auch seine Ehefrau nicht mehr am Leben ist. 

„Wie kann es sein, dass beide sterben?“, fragt Joachim Greuner nach einem kurzen Moment der Stille. „Was ist in der Nacht passiert?“

„Sie stellen die richtigen Fragen“, antwortet einer der Ärzte. 

UKE: Keine befriedigenden Antworten auf Fragen zum Tod von Frau und Sohn

So berichtet es Joachim Greuner. Aber bis heute, vier Jahre nachdem er seine Frau Silja und seinen Sohn Maxim im UKE verlor, hat Greuner keine befriedigenden Antworten auf seine „richtigen Fragen“ bekommen. Nicht vom UKE, nicht von der für die Klinikaufsicht zuständigen Grünen-Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank, nicht von der Ärztekammer und nicht von der „Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen“. 

Dabei hat der 41-Jährige im Grunde nur eine Frage: Was ist im Mai 2019 so furchtbar schiefgelaufen, dass seine hochschwangere Frau und sein ungeborenes Kind sterben mussten?

Zehntausende sterben in Kliniken an dieser Krankheit, die noch immer unterschätzt wird

Den Kampf um eine Antwort führt Joachim Greuner noch immer. Gegen eine übermächtig wirkende Klinik. Gegen eine aus seiner Sicht bisweilen mangelhafte Fehlerkultur in der Medizin. Und gegen eine Politik, die seit Jahren zusieht, wie in Kliniken nach Expertenschätzungen Zehntausende Menschen sinnlos sterben, weil Ärzte eine der gefährlichsten und häufigsten Erkrankungen oft nicht rechtzeitig erkennen.

Die Erkrankung, an die auch Silja und Maxim Greuner im UKE ihre Leben verloren: die Sepsis, eine Blutvergiftung. Dabei reagiert das Immunsystem so heftig auf eine Infektion mit Bakterien oder Viren, dass es eigene Organe schädigt. Die rechtzeitige Gabe von Antibiotika kann die Sepsis meist stoppen. Unbehandelt dagegen verläuft die Erkrankung häufig tödlich.

→ weiterlesen